Donnerstag, 12. Oktober 2017

„Lieb und teuer: Was ich im Puff über das Leben gelernt habe“ – Auszug aus dem neuen Buch

Auszug aus dem neuen Buch „Lieb und teuer: Was ich im Puff über das Leben gelernt habe“, Ilan Stephani

Ecowin-Verlag, erschienen am 12.Oktober 2017

DER ERSTE TAG

Ich radle durch den Sommer in einem Berliner Wohngebiet, den Zettel mit der Puffadresse fest in der Hand. Auf dem Klingelschild, so hatte mir eine freundliche Puffstimme am Telefon gesagt, stünde übrigens nicht »Bordell«, sondern »König«. Genau genommen könnte ich ja zu irgendeinem Herrn König unterwegs sein oder selbst so heißen, ich könnte sein wie die Menschen um mich herum, die gerade Sonnenbrillen kaufen, telefonieren und ins Büro fahren. Autofahrer hupen, und die Busse sind voll mit Schulkindern. Habe ich jetzt schon ein Doppelleben?

Während ich klingle, lege ich mir zurecht, was ich sage, falls ich doch nicht in einem Puff, sondern im Wohnzimmer von Familie König landen würde. Aber kaum, dass ich auf das Namensschild drücke, springt der Summer an, und wenige Treppenstufen später … lächelt mir eine Frau aus einem Türspalt entgegen. Oh, die Unterwelt erweist sich als umsichtig, verständnisvoll und diskret. Und schon verliebe ich mich in sie.

»Hallo, du bist Ilan, stimmts?«, sagt die Frau. Ich lächle auch. Vor mir steht eine Frau, die mich an meine Tante erinnert, um die fünfzig, in einem einfachen Kostüm, mit einer Brillenkette um den Hals und mit offenen, klaren Augen. Sie streckt mir die Hand entgegen. »Herein. Hier ist grad viel los, aber wir können kurz reden. Ich bin Elli. Wir haben telefoniert.«

Nur eine simple Türschwelle, und ich falle in dieselbe Welt, in die vor mir Tausende von Männern gefallen sind – eine warme Wohnung mit langen Gängen, weichen Farben, mit Musik im Hintergrund.

»Komm, wir suchen uns mal ein freies Zimmer, dann haben wir mehr Ruhe.« Elli streckt den Kopf durch einen Vorhang, hinter dem ich Frauenstimmen höre, und ruft: »Übernehmt ihr das Telefon? Ich bin kurz im Gespräch.« Sie setzt sich seelenruhig auf das Bett in einem freien Zimmer. Auf das erste Puffbett meines Lebens. Hier würde ich mal Sex haben? Ich nehme in einigem Abstand zu ihr auf einem kleinen, quietschenden Ledersessel Platz und sehe sie höflich an. »So gucken die Männer hier wahrscheinlich auch«, denke ich kurz und schaue unbeirrt weiter. »Also, ich hab das am Telefon nicht ganz verstanden – du willst das hier einfach mal ausprobieren?« In Ellis Stimme liegt kein Druck. Sie wartet ab.

»Ja, genau.« Ich nicke. »Ich weiß nicht, ob ich das hier mag und – äh – wirklich will. Die bei der Beratungsstelle haben mir eure Adresse gegeben, weil ihr hier …« Ich suche hilflos nach Worten. »… ganz gute Arbeit macht …«

Elli lacht. »Na ja, ich bin hier nur eine von den Hausdamen. Ich sag immer, Hausdamen sind der Puffbutler. Und natürlich hoffe ich, dass du meine Arbeit gut findest, aber das musst du selbst beurteilen. Jedenfalls – ich bin dein Mädchen für alles. Egal was ist, du kommst damit zu mir, okay?« Ich nicke.

»Und noch was: Wie sollen wir dich hier nennen? Ilan ist ja dein richtiger Name, oder?«
Wir überlegen.
»Cara«, sage ich schließlich.
»Haben wir schon.«
»Und Nora?«
»Auch.«
»Paula?«
»Ja, Paula geht! Und Paula passt zu dir.«
Plötzlich bin ich aufgeregt. Paula also.
»Okay, Paula, wie verbleiben wir? Willst du dich einfach melden, wenn du weißt, ob du anfangen willst?« Ich sehe mich um. Warum sollte ich jetzt auf mein Rad steigen und später wiederkommen? »Ach, ich glaube, ich bleibe gleich hier«, sage ich.
»Geht das?«
»Klar!« Elli hebt gelassen die Schultern. »Wenn du willst, natürlich.«

(…)

Ungeachtet meiner Aufregung nimmt ein nüchterner Tag seinen Lauf. Ein eingespieltes Team, voller Routinen. Türen gehen auf und zu. Männer klingeln, weil sie in den Puff wollen oder wieder raus. Elli eilt die Gänge entlang, das Telefon schrillt, die Waschmaschinen fiepen, und ich schwimme wie ein kleines Körperchen in einem großen Schwarm, werde in die Zimmer gespült und wieder hinaus.

Ein Tag voller Premieren. Das erste Mal laufen auf High Heels, das erste Mal Lidschatten, das erste Mal echte Kolleginnen. Oh, ach ja – und das erste Mal Sex gegen Geld. Tür aufmachen, lächeln, Hand drücken, Namen sagen – den falschen Namen, den neuen Namen –, wieder gehen.

Männer entscheiden sich für Kolleginnen von mir oder gehen wieder, weil sie sich nicht entscheiden können. Mir schwirrt der Kopf. Lena kommentiert: »Sag dem Nächsten doch einfach, dass das hier dein erster Tag ist. Dann nimmt er dich garantiert.« Und Cara nickt lebhaft: »Absolut. Eine Jungfrau im Puff ist so was wie …« »Ein Sechser im Lotto!«
»Genau!«
Der wievielte Mann ist das jetzt, bei dem ich mich vorstelle? Ich weiß es nicht mehr.
»Hi, ich bin Paula.«
Er sieht mich mit großen Augen an. »Ach, komm, dann bleiben wir doch gleich zusammen, ja?« Es klingt, als sei mein Name das Argument, auf das er gewartet habe. Ich vergesse, zurück zur Tür zu gehen. Macht er gerade Witze? Das also würde mein erster Freier sein?
Nie, nie wieder habe ich einen so normalen Freier erlebt wie diesen. Ein Mann, jenseits der vierzig, relativ klein, dunkle Haare, eine Brille, ein Jackett und bürotaugliche Lederschuhe. Plötzlich fällt mir ein Satz ein, den ich zufällig mal aufgeschnappt habe: »Jede Prostituierte ist therapeutisch tätig.« Dieser Satz trägt mich durch diese erste Begegnung von Sex und Geld hindurch. Dieser eine Satz ist mein Leitsatz, meine Orientierung, mein erster und einziger Rat, den ich habe. Und er hält und hält, führt jeden Augenblick nahtlos in den nächsten.

Wir reden eine Weile. Elli hat mir gesagt, ich solle mir um die Zeit mal keine Sorgen machen, und ich mache mir überhaupt keine Sorgen, er sitzt nackt und geduscht vor mir auf dem Bett, ich brauche ihn nur zu berühren, schon legt er sich hin, ich brauche nur mit einer Hand zwischen seine Beine zu gleiten, schon stöhnt er, die Kondome liegen direkt am Bettrand, ganz so, als würde hier jemand für Situationen wie diese mitdenken, ich rolle das Latex so elegant wie möglich über seinen Schwanz, sehe ihn an, setze mich auf ihn, er hält meine Hüften fest und bewegt ein paar Minuten lang sein Becken, ich atme tiefer und beuge mich nach vorn, zu ihm hinunter, er schließt die Augen und kommt, macht die Augen Momente später wieder auf und sagt: »Danke.« Und lächelt. Ich lächle nicht, ich schweige ihn nur an. Das also ist es? Das also – so also ist Sex gegen Geld?

Dann kommt doch noch mein Auftritt als Therapeutin: Sein Vater liegt im Sterben, er erzählt, wie lange er sich nun schon um ihn gekümmert habe. Dass er trauere, jetzt schon, obwohl die Ärzte seinem Vater noch ein paar Wochen zu leben geben. Jetzt lächle ich und nicke und höre zu. Voller Teilnahme.

Zwei Jahre voller Teilnahme liegen vor mir, und ich werde mich nie entscheiden können, ob mir die Geschichten, die Schicksale, die Probleme der Männer tatsächlich egal sind oder ob sie mich tatsächlich berühren. Hier jedoch, zum ersten Mal von vielen, nicke und lächle ich mit der Ruhe einer Therapeutin, und mir kommt Dankbarkeit entgegen, Wertschätzung, Erleichterung.

Sobald ich aus dem Zimmer gehe, schließe ich mich im Bad ein und starre mir angestrengt in die Augen.
Vorher-nachher.
Irgendetwas. Muss. Doch. Jetzt. Anders. Sein.
Ist es aber nicht.

»Vielleicht«, denke ich zweifelnd, »vielleicht zählt der Typ eben gar nicht? Weil er einfach zu normal war, um aus einem jungen Mädchen eine Nutte zu machen?« Der zweite Typ jedoch würde dann auch nicht zählen, denn – wir haben keinen Sex. Er ist jung, spricht amerikanisches Englisch, ist unsicher und zögert, und dummerweise zögere ich auch. Ich versuche, ihn zum Bad zu führen, wie man es mir aufgetragen hat, renne mit ihm aber in die falsche Richtung, laufe einem anderen Mann in die Arme und zerre meinen Gast erschrocken hinter einen Vorhang.

»So sorry …«, murmele ich. Als wir schließlich in einem Zimmer landen und ich die Tür hinter uns schließe, lasse ich mich aufs Bett fallen und ziehe mir die Schuhe aus. Meine Füße tun weh.
»Can you … could you …«, setzt er an und stockt. Himmel, was kommt denn jetzt? Vielleicht sollte ich ihm schleunigst sagen, dass ich vom Puff noch keine Ahnung habe?
»Can you just massage my back?« Ich schaue ihn fragend an. Rückenmassage? Äh – ja. Ich setze mich auf seinen Rücken und drücke großzügig auf die Gleitgelflasche. Seine Haut schwimmt in Silikon, eine Überdosis. Ich schweige. Die Zeit vergeht. Er rührt sich nicht, aber ich spüre, wie er langsamer atmet. Schließlich sagt er: »Ich hatte Angst, hierherzukommen, kannst du dir das vorstellen?« Ich muss lachen und greife verlegen in seine Schultermuskeln.
»Warum lachst du?«
»Ach, nur so. – Also, um ehrlich zu sein, das hier ist mein erster Tag. Und du bist mein zweiter Mann. Ich kann das mit der Angst gut verstehen, denke ich.« »Wirklich?« Er wirft mich fast ab, als er sich zu mir umdreht. »Amazing.« Er setzt noch einmal an: »Und warst du vorher woanders?« »Nein. Noch nie. Ich muss mich die ganze Zeit dran erinnern, dass ich jetzt Paula bin.«
Wieder schweigen wir beide, nur unsere Gehirne arbeiten hörbar. Dann atmet er ein: »Okay. Ich sag dir was. Ich bin Dozent in New York City. Und ich war noch nie in Europa. Ich bin erst gestern hier angekommen. Und das hier ist wie eine Mutprobe für mich.«
»Und ich war noch nie in Amerika. Was unterrichtest du denn?«
»Latein und Griechisch. Altgriechisch.«
»Ich hatte Latein in der Schule, sechs Jahre lang«, sage ich. Mir fällt auf, dass ich keine Ahnung habe, wie eine Gesprächsführung im Puff sich von anderen Begegnungen zu unterscheiden hat. Ich warte ein wenig. Sollte ich mehr von mir erzählen oder gar nichts? Oder vielleicht eine zweite Identität ausarbeiten, bei der Paulas Eltern Diplomaten waren und ich, ein reiches Einzelkind, in Bolivien aufgewachsen bin?

Um mir mit all dem ein wenig Zeit zu geben, kehre ich zu meiner echten Version zurück. Was macht es schon, wenn sich zwei Puffjungfrauen auf verschiedenen Kontinenten an eine wahre Geschichte erinnern können? Ich sage: »Bei uns im Lateinunterricht gab es in Klausuren immer die Regel, dass wir einen Punkt mehr bekommen, wenn wir den Anfang aus De bello Gallico von Caesar zitieren können. – Warte mal, ich kann den Satz sogar noch …«
Er lacht. »De bello Gallico?« Ich schiele unauffällig zur Tür. Ich stelle mir vor, dass draußen vor der Türklinke Elli oder Cara lauschen, um zu hören, wie sich die Neue anstellt, und dass sie mich,
sollte ich plötzlich Latein zu sprechen beginnen, behutsam beiseitenehmen würden, um mich über die Gepflogenheiten des Hauses aufzuklären. Aber die Tür scheint fest geschlossen. Ich atme ein und spreche feierlich: »Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam, qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur.«
Wir lachen beide. »Ich mag Berlin«, sagt er vergnügt. »Sag, wie spät ist es?« Ich setze mich eilig auf. »Oh, sorry, hab ich vergessen.« Er schüttelt den Kopf. »Lass, Paula. Bleib so.« Er schweigt, dann sagt er: »Ich dachte, ich will Sex. Aber ich hab was anderes gefunden. Weißt du, was ich meine?« Ich nicke. Er kann mich nicht sehen, ich sitze immer noch auf seinem Rücken. Aber es reicht trotzdem, dass ich nicke.

Später schicke ich Elli, um ihn zur Tür zu bringen. Sie sagt: »Paula, er war sehr, sehr begeistert. Er hat geweint. Ich weiß nicht, was du gemacht hast, aber er musste noch einen Moment sitzen bleiben. – Ich soll dir sagen, dass du wundervoll bist, das hat er mir aufgetragen. Und dass er nicht mehr wiederkommen wird.«

Mit diesem Mann hatte ich mein Element gefunden. Hier wollte ich sein, an unvorhergesehenen Orten wie diesem, wo kostbare Intimität entsteht, an denen sie zauberleicht durch unsere Erwartungen greift, mit ihrem federweichen Erdbeben unsere Routinen zerbricht – die absurden Überraschungen und der plötzliche, tiefe Kontakt … Kaum als Hure geboren, ist Paula schon glücklich.

»Hey, würdest du auch einen Dreier mit mir machen?«, fragt mich eine Kollegin, deren Namen ich noch gar nicht kenne.
»Ja, klar!«, strahle ich. »Wieso? Hat einer gefragt?«
»Ja, aber der nimmt mich und Jackie!«, ruft eine weitere Frau zu uns herüber.
»Ach so, na, dann nächstes Mal.«
Ja, genau, nächstes Mal. Viele nächste Male liegen vor mir, ein funkelndes Feld an Begegnungen, Möglichkeiten, Wegen und Erfahrungen. Ich leuchte vor Neugierde. Nein, ich weiß nicht, woher diese seltsame, spontane Liebe zum Puff kam. Etwas in mir war dankbar, ohne zu zögern, war begeistert, ohne lange zu fragen. Ich war gefesselt von der Dichte, dem Reichtum an Kontakt, der Fülle an Eindrücken. Als könnte ich die ganze Welt in einem Bett, in meinem Körper versammeln. Und bis zum Tag, an dem ich den Puff wieder verließ, dachte ich: »Ich werde nie etwas anderes machen. Es gibt einfach keinen Grund dazu.«

Am Ende des Tages grinste Cara mich an. »Sag mal, Paula, bist du sicher, dass du noch nie woanders gearbeitet hast?« Was ich an diesem Tag noch nicht wusste, erst sehr viel später: Eigentlich hätte ich nach meinen ersten beiden Männern wieder gehen können. Denn nach diesen
beiden Männern hatte ich alles begriffen. Nachdem der schüchterne Dozent aus New York City gegangen war, um nie mehr wiederzukommen, schlängelte ich mich am selben Tag noch an einer Stange entlang, entrollte am lebenden Objekt mein erstes Kondom mit den Lippen und servierte nebenher einem wartenden Freier einen Kaffee, während er auf seine angebetete Cara warten
musste.

Aber gleichgültig, wie viele Jahre ich noch danach hätte arbeiten können, die Prostitution hat mir nie etwas Anderes enthüllt als die Facetten zwischen meinen zwei ersten Freiern. Der erste Tag hatte mir bereits alles gezeigt, das ganze Spektrum umrissen, das ich erleben sollte. Normale Männer mit normalem Sex – und Überraschungen, Findungen, Gefühle. Im Prinzip war alles Weitere im Puff nur noch Variation.

Auszug aus „Lieb und teuer“, Ilan Stephani, Ecowin-Verlag, erschienen am 12.Oktober 2017

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Quelle: „Lieb und teuer: Was ich im Puff über das Leben gelernt habe“ – Auszug aus dem neuen Buch

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